BODEN
BURNOUT

Um die Böden der Erde zu retten
– und damit uns selbst –
müssen wir unsere Landwirtschaft radikal ändern

von Marius Münstermann
Fotos & Videos Christian Werner
Illustrationen Erik Tuckow

Für diese multimediale Reise in den Untergrund
empfehlen wir Vollbildmodus und Kopfhörer.

Kapitel III

Grüne Revolution 2.0

„Data is the new soil.“

David McCandless, Informationsdesigner und Datenjournalist

In der Nacht hat es wie aus Eimern geschüttet. Trotzdem versinken Bernd Olligs Stiefel nicht im Matsch, als der 55-Jährige auf seinen feuchten Acker im niederrheinischen Rommerskirchen stapft. „Das Wasser muss an Ort und Stelle versickern können“, erklärt Olligs. Um zu demonstrieren, warum das bei ihm klappt, zieht der Landwirt mit langen Schritten los auf den Acker direkt hinter dem Damianshof, den seine Familie in sechster Generation bewirtschaftet. 

Zuckerrüben, Kartoffeln, Weizen und Raps auf 120 Hektar. „Auf einem der besten Böden der Welt“, sagt Bernd Olligs stolz.

Stromleitungen queren seine Felder, am Horizont pumpen die Kühltürme des Kohlekraftwerks von Neurath Dampf in den wolkenverhangenen Himmel. Dahinter klaffen die gigantischen Kohlegruben von Garzweiler in der Landschaft. Bernd Olligs ackert in Sichtweite einer der größten CO2-Schleudern Europas.

Böden wie seiner hingegen könnten ein zentraler Baustein im Kampf gegen die Klimakrise sein. Davon ist zumindest Bayer überzeugt. Der Damianshof ist einer von 27 landwirtschaftlichen Betrieben, mit denen der Konzern seit vergangenem Jahr sein „Carbon Farming“-Programm in Europa aufbaut.

Das Geschäftsmodell hinter Carbon Farming: Landwirte werden für den Humus in ihren Äckern belohnt. Denn wer Humus aufbaut, entzieht der Atmosphäre CO2. Für jede in ihrem Boden gespeicherte Tonne Kohlenstoff erhalten Landwirte deshalb Zertifikate, die sie zu Geld machen können. Ausgestellt werden diese Zertifikate von Firmen, die als Dienstleister auftreten und die Kohlenstoffspeicherung messen und nachweisen wollen. Andere Firmen wiederum können die Humus-Zertifikate kaufen und damit auf dem Papier ihre Klimabilanz aufbessern.

Doch diese Idee steht zunehmend in der Kritik – erst recht, seit das Who is Who der Weltwirtschaft den Acker als Kohlenstoffsenke entdeckt hat. „Carbon Farming ist Teil einer rasant wachsenden Agenda, die von großen Umweltverschmutzern aus der Landwirtschaft und der fossilen Industrie gleichermaßen vorangetrieben wird“, schreibt Sophie Scherger vom Berliner Büro des Institute for Agriculture & Trade Policy (IATP) in einer umfassenden Analyse. „Klimaschädliche Unternehmen sehen darin eine riesige Chance, große Mengen an Kohlenstoffzertifikaten zu generieren, die ihnen den weiteren Ausstoß von Klimagasen ermöglichen und die dringend notwendigen Emissionssenkungen verzögern.“

In den USA betreiben McDonald‘s und Microsoft bereits seit einigen Jahren eigene Carbon-Farming-Projekte. Der italienische Öl- und Gaskonzern Eni vermarktet den Anbau von Biokraftstoffen in Kenia als Klimaschutzmaßnahme. Shell hat mit Select Carbon ein Start-up gekauft, dessen Partnerbetriebe in Australien nach eigenen Angaben auf mehr als neun Millionen Hektar Land Carbon Farming betreiben. Der deutsche Chemieriese BASF will ebenfalls ein eigenes Carbon-Farming-System etablieren. In Irland kooperiert der Konzern bereits mit einer Brauerei, die mit Gerste von Kohlenstoff-zertifizierten Flächen „Klima-Bier“ herstellt. Der Slogan, mit dem der Düngemittelgigant Yara aus Norwegen wirbt, bringt die Idee auf den Punkt: „Carbon Farming ist gut für unsere Bauern, unser Geschäft und unseren Planeten.“

Als einer der ersten Finanzdienstleister zahlt die niederländische Rabobank Landwirten Geld für Kohlenstoffzertifikate. In ihrer „Bodenstrategie für 2030“ hält die EU-Kommission fest: „Der Banken- und Finanzsektor ist zunehmend daran interessiert, in Landwirte zu investieren, die nachhaltige Praktiken anwenden und den Kohlenstoffgehalt im Boden erhöhen, und marktbasierte Anreize für die Kohlenstoffspeicherung zu schaffen.“

„Böden sind mehr als nur eine Kohlenstoffsenke“

Allerdings bleiben viele Zweifel. „Eine klare Definition von Carbon Farming gibt es nicht“, fasst Axel Don vom Thünen-Institut für Agrarklimaschutz in Braunschweig zusammen. Er hat berechnet, dass sich in Deutschlands Ackerböden durch Humusaufbau bis zu fünf Millionen Tonnen Treibhausgase speichern ließen. „Doch dem gegenüber stehen hohe Emissionen“, sagt Don. Rund hundert Millionen Tonnen klimaschädlicher Gase stößt die Landwirtschaft allein in Deutschland jedes Jahr in die Atmosphäre aus, darunter große Mengen Lachgas und Methan, die noch weit klimaschädlicher sind als CO2. Aktuell trägt die Landwirtschaft also viel mehr zum Problem bei als zur Lösung.

Hinzu kommt, dass der Humusaufbau nicht zwangsläufig dauerhaft ist, mahnt Don: „Bei späterer Änderung der landwirtschaftlichen Praktiken kann der gespeicherte Kohlenstoff auch schnell wieder freigesetzt werden.“ Der Geoökologe erinnert daran, dass „landwirtschaftliche Böden mehr sind, als nur eine Kohlenstoffsenke. Klimaschutz ist nur einer, aber vielleicht gar nicht der wichtigste Aspekt.“ Humose Böden lieferten gesunde Lebensmittel und könnten zum Schutz von Biodiversität und Wasser beitragen. Deshalb sagt Don: „Ein verengter Blick auf die gespeicherte Tonne CO2 birgt die Gefahr, dass andere Ziele hinten runterfallen.“

Für die EU soll Carbon Farming dennoch eine Schlüsselrolle auf dem Weg zur angestrebten Klimaneutralität bis 2050 spielen. Als das EU-Parlament im März seinen Bericht über „nachhaltige Kohlenstoff-Kreisläufe“ verabschiedete, sagte der parlamentarische Berichterstatter Alexander Bernhuber: „Carbon Farming kann zu einer weiteren Einnahmequelle für die Land- und Forstwirtschaft Europas werden.“ Mit ihrer Carbon-Farming-Inititiave will die EU Betriebe unterstützen, die Zwischenfrüchte anbauen oder auf den Pflug verzichten.

Davon profitieren würden Betriebe wie der Damianshof von Bernd Olligs. Auf seinen Ackerflächen im Rheinland setzt er bereits vieles um, was dem Boden nachweislich gut tut.

Olligs deutet auf Löcher, groß wie von Mäusen. „An diesen Stellen sind die Wurzeln des Winterrettichs verrottet.“ Im vergangenen Spätsommer, nach der Getreideernte, hat er den Rettich zusammen mit weiteren Arten als Zwischenfrucht ausgebracht.

„Da muss man dann an einem kalten Wintermorgen mit einer dicken Walze drüberfahren“, erklärt Olligs. „Der Rettich muss richtig knacken unterm Traktor.“ Die so getöteten Rettichpflanzen verrotten, sie werden von Regenwürmern in den Boden gezogen und zu Humus umgewandelt. Zurück bleiben die vielen Löcher, in denen der Regen rasch versickern und die Folgekultur gut wurzeln kann.

Doch der zunehmend mildere Frost und die Walze reichen nicht immer aus, um die Zwischenfrüchte abzutöten. In diesem Fall nutzt Bernd Olligs Glyphosat. „Die Alternative wäre Pflügen auf etwa dreißig Zentimeter Tiefe, das würde die durch die Zwischenfrucht aufgebaute Kapillarität wieder zerstören“, erklärt der Pressesprecher von Bayer, der den Besuch bei Olligs begleitet. „Denn es geht auch darum, den Boden im Frühjahr so wenig wie möglich mechanisch zu bearbeiten.“

An dieser Stelle schließt sich der Kreis: Bayers Herbizide ermöglichen den pfluglosen Ackerbau. Den wiederum kann Bayer in Form von Carbon-Farming-Zertifikaten als Klimaschutzmaßnahme verkaufen.

Bayers Pressesprecher behauptet: „Glyphosat ist auf jeden Fall besser für Böden und Klima als intensive Bodenbearbeitung.“ Er sagt: „Ein Acker ist per Definition kein Ort für Biodiversität, da dort die Kulturpflanze ohne Nährstoffkonkurrenz von anderen Pflanzen und Unkräutern wachsen soll. Der Biolandbau erreicht das mit dem Pflug, die bessere Variante ist Glyphosat.“

Bernd Olligs bestellt seine Flächen hauptsächlich im pfluglosen Mulchsaatverfahren. Daneben hat er zu Vergleichszwecken einen Ackerstreifen gepflügt. Dass viele Landwirte ihre Böden bearbeiten und zusätzlich Herbizide verwenden, kommentiert er mit einem Kopfschütteln: „Gepflügt und trotzdem noch gespritzt – das ist ja wohl ein Eigentor.“

„Das intelligente Feld“

Bayer bewirbt Bernd Olligs Betrieb als „Future Farm“. Hier lässt sich erahnen, wie sich die Agrarindustrie die Landwirtschaft der Zukunft vorstellt. Abgerundet wird diese Vision mit der Digitalisierung des Ackerbaus.

Bayer hat jeden Quadratzentimeter von Olligs Feldern im Blick: mit Sensoren im Boden, Kameras am Traktor, Drohnen in der Luft und Satelliten im All. Fangschalen zeigen an, wenn ungewünschte Insekten im Bestand auftreten. Die so gewonnenen Daten werden mit Wetterprognosen und anderen Informationen kombiniert. Bei Bayer fließen alle Daten in einer App namens „FieldView“ zusammen. Dafür hat sich Bayer mit den Landmaschinenherstellern Claas und John Deere darauf geeinigt, die Daten aller drei Konzerne zusammenzuführen. Alle großen Player der Agrarindustrie haben längst ähnliche Programme zur Digitalisierung der Landwirtschaft.

Nur wer eine dieser Apps nutzt und selbst Daten seines Betriebs bereitstellt, darf an Bayers Carbon-Farming-Programm teilnehmen. „Landwirte erhalten ein kostenloses FieldView-Abonnement, wenn sie damit an unserem Carbon-Farming-Programm teilnehmen möchten“, so der Pressesprecher von Bayer. „Wir benötigen die Daten, um zu modellieren, was die Böden absorbiert haben. Nur so können wir die CO2-Reduktion wiederum gegenüber Dritten verifizieren und zertifizieren.“ Auf diese Weise wird Big Data mehr und mehr zur Voraussetzung für die Produktion landwirtschaftlicher Erzeugnisse.

Auf seinem Tablet lässt sich Landwirt Olligs in der App maßgeschneiderte Empfehlungen anzeigen, die Bayer für seinen Betrieb standortspezifisch generiert hat:

Wo genau soll er wie viel Dünger ausbringen?
Welche Schädlinge befallen seine Pflanzen?
Und welches Pestizid soll er dagegen spritzen?

Item 1 of 5

Die digitale Präzision soll die Intuition und das Gespür der Bauern für den Acker ersetzen. Das Argument, mit dem die Agrarindustrie den Bauern ihre Entscheidungshoheit mehr und mehr abnimmt, klingt seltsam vertraut: Die Landwirtschaft sei zu ineffizient, um eine wachsende Weltbevölkerung nachhaltig zu ernähren.

Diese Grüne Revolution 2.0 soll jedoch keinesfalls die agrochemischen Inputs der ersten Grünen Revolution ersetzen. Im Gegenteil: Die Digitalisierung der Landwirtschaft rundet das Geschäftsmodell der Konzerne letztlich ab. Die Industrie liefert den Bauern weiterhin Saatgut, Pestizide und Düngemittel aus einer Hand – und dank der Digitalisierung wird deren Verwendung vom konzerneigenen Algorithmus gesteuert und kontrolliert.

Bei Bayer spricht man vom „intelligenten Feld“ und einer „Präzisionslandwirtschaft“, mit der sich Düngemittel und Pestizide einsparen ließen. Ein Konzern, dessen Kerngeschäft der Verkauf von Düngemitteln und Pestiziden ist, empfiehlt den Bauern, weniger von diesen Mitteln einzusetzen?

„Von Schwertern
zu Pflugscharen
zu Drohnenscharen“

Matthias Berninger, Chef-Lobbyist von Bayer

Diesen vermeintlichen Sinneswandel verkörpert kaum jemand so sehr wie Matthias Berninger. Als Mitglied der Grünen war Berninger Staatssekretär im Bundesministerium für Landwirtschaft und Ernährung. Seit 2019 ist er Cheflobbyist von Bayer. „Wir wollen dazu beitragen, dass Landwirtschaft unterm Strich einen positiven Beitrag leistet. Um die Menschheit innerhalb der planetaren Grenzen ernähren zu können, muss sich die Landwirtschaft, wie wir sie heute kennen, durch Innovation revolutionär verändern.“ Das ist Berningers Botschaft: Die industrielle Landwirtschaft sei nicht länger das Problem, sondern Teil der Lösung.

Die Apotheke im Boden

Längst forschen Bayer und Konkurrenten wie BASF oder Syngenta an einer neuen Generation von Pestiziden und Düngemitteln. Die Zutaten dafür finden die Konzerne immer häufiger unter der Erde. Genauer gesagt: im Bodenleben.

Dass der Boden ein reiches Reservoir an Wirkstoffen bietet, ist seit Längerem bekannt. Vor beinahe hundert Jahren wurde Penicillin, das erste Antibiotikum, aus einem bodenbewohnenden Pilz gewonnen. Mittlerweile sind mehr als 5000 antibiotisch wirkende Substanzen erfasst. Weil die meisten von ihnen allerdings auch für menschliche Zellen giftig sind, konnten bislang erst rund hundert Antibiotika als Arzneimittel verwendet werden. In Zeiten von Antibiotikaresistenzen wird fieberhaft nach neuen Wirkstoffen aus dem Boden gesucht.

Besonders vielversprechend scheint die artenreiche Gattung der Streptomyces. Diese Bakterien produzieren unter anderem den Duftstoff Geosmin, verantwortlich für den charakteristischen Geruch von Waldböden und von Sommerregen, der auf trockenen Grund fällt. Einige Streptomyces-Arten bilden außerdem Wirkstoffe, die etwa für das Entwurmungsmittel Ivermectin genutzt werden und bei Tests auf Ratten stressmindernd wirkten. Stoffe aus anderen Bodenbakterien wiederum wirken antidepressiv und können die emotionale Belastung von Patienten im fortgeschrittenen Krebsstadium verringern.

Doch Bayer sucht im Boden nicht nur nach neuen Wirkstoffen für seine Pharmasparte. Mit den neuen Möglichkeiten der Genomeditierung – auch „neue Gentechnik“ genannt – rückt das Bodenleben zunehmend in den Fokus der Agrarindustrie. Das Ziel: Die vielversprechendsten Mikroorganismen aus dem Boden in neue Produkte zu integrieren, um sie als Dünge- und Pflanzenschutzmittel an Landwirte zu verkaufen. „Dank unserer Sammlung von mehr als 125.000 Mikrobenstämmen steht uns eine genetische Vielfalt zur Verfügung, mit der wir neue und nützliche Produkte für Landwirte in aller Welt entwickeln können“, verkündet Bayer auf seiner Webseite. „Der Düngemittelmarkt ist doppelt so groß wie der Markt für Pflanzenschutzmittel und Saatgut zusammengenommen“, sagt Matthias Berninger. „Das ist also ein Riesengeschäftsfeld, das sich für uns erschließt, indem wir auf Biologie setzen.“

Das Bodenleben als Produkt

Bayer ist es gelungen, eines der ersten Produkte dieser Art zu entwickeln, bei dem auch genetisch veränderte Bodenorganismen zum Einsatz kommen: eine Beize zur Behandlung von Mais und Soja. Das Saatgut wird mit dem Mittel behandelt, um die frisch gesäten Samen und Keimlinge vor gefräßigen Nematoden zu schützen und die Pflanzen gleichzeitig zu düngen.

Nematoden oder Fadenwürmer sind eine der artenreichsten Gruppe von Kleinlebewesen im Boden. Die meisten von ihnen sind nützlich, doch andere ernähren sich von Pflanzen. In den USA sind Nematoden für milliardenschwere Ernteverluste im Sojaanbau verantwortlich. Zum Schutz vor Nematoden wird das Saatgut zunächst mit einem konventionellen Insektizid aus der Gruppe der Neonikotinoide ummantelt. Ein übliches Verfahren, wenngleich Neonikotinoide als besonders umweltschädlich gelten. Das neue Mittel jedoch kombiniert die Wirkung des Insektizids mit zwei Bakterienarten, die gezielt auf dem Saatgut angesiedelt werden.

Das erste Bakterium bekämpft ebenfalls die Nematoden, indem es eine Art Schutzfilm um die jungen Wurzeln der Pflanzen bildet. Das Gift des zweiten Bakteriums, Bacillus thuringiensis, wird bereits seit 1938 als Insektizid verwendet, auch im Ökolandbau. Auf dem neuen Saatgut aber soll das Bakterium überdies eine Düngewirkung entfalten. Dafür werden die Mikroorganismen mittels Genomeditierung dazu gebracht, ein Enzym in den Boden abzusondern. Dieses wandelt abgestorbene Pflanzenreste im Boden in Zucker um. Der Zucker füttert andere Mikroben im Boden, macht sie aktiver, wodurch der keimenden Pflanze wiederum mehr Nährstoffe zugeführt werden sollen.

Das neue Saatgut wurde ursprünglich von Bayer patentiert, musste dann im Zuge der Übernahme von Monsanto im Jahr 2018 aus kartellrechtlichen Gründen an den Konkurrenten BASF abgetreten werden. Bayer zahlt BASF seitdem Lizenzgebühren, um das Mittel vertreiben zu dürfen. In den USA wird es bereits auf mehreren Millionen Hektar Land eingesetzt.

„Ein Wandel hin zu biologischen Lösungen könnte ein großer Gewinn für die Umwelt und die menschliche Gesundheit sein“, schreibt die internationale Umweltorganisation Friends of the Earth in einem Bericht zu gentechnisch veränderten Bodenorganismen. „Doch BASF verkauft diese biologische Behandlung in Kombination mit einem höchst problematischen Insektizid, das für seine extreme Schädlichkeit für Bestäuber und andere nützliche Insekten bekannt ist.“ Diese neuartigen Produkte prophylaktisch in riesigen Monokulturen einzusetzen, werde letztlich dazu führen, dass die Nematoden, die eigentlich bekämpft werden sollen, weitere Resistenzen entwickelen. „So vermarkten die Konzerne der agrochemischen Industrie ihre neuen, biologischen Produkte als Lösung für ein Problem, das sie weitgehend selbst geschaffen haben – die Resistenz Hunderter Schädlingsarten gegen gängige Pestizide.“

Dasselbe gilt laut Friends of the Earth für den Einsatz von Bodenorganismen zur Düngung der Pflanzen. „Diese Technologie ist eine unzureichende Antwort auf ein anderes Problem, das größtenteils von der agrochemischen Industrie geschaffen wurde – ein landwirtschaftliches System, das von ausgelaugten Böden mit stark geschwächten mikrobiellen Gemeinschaften gekennzeichnet ist.“

Das verarmte Bodenleben verliert die Kontrolle über die unzähligen Viren, Pilze und Bakterien, die unsere Nutzpflanzen-Monokulturen befallen. Seit die konventionellen Pestizide immer weniger wirken, weil immer mehr Schädlinge Resistenzen entwickeln, ist ein vielversprechender neuer Markt für die vermeintlich biologischen Lösungen der chemischen Industrie entstanden.

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Glomerella graminicola

Glomerella graminicola

Phyllosticta maydis

Phyllosticta maydis

Kabatiella zeae

Kabatiella zeae

Septoria maydis

Septoria maydis

Puccinia graminis

Puccinia graminis

Puccinia graminis

Puccinia graminis

Fusarium

Fusarium

Fusarium

Fusarium

Xanthomonas translucens

Xanthomonas translucens

Puccinia triticina

Puccinia triticina

Phaeosphaeria maydis

Phaeosphaeria maydis

Xanthomonas translucens

Xanthomonas translucens

Urocystis agropyri

Urocystis agropyri

Puccinia graminis

Puccinia graminis

Puccinia graminis

Puccinia graminis

Ustilago nuda

Ustilago nuda

In den USA ist inzwischen mindestens ein weiteres Produkt im Einsatz, das genetisch veränderte Bodenorganismen enthält. Nach erfolgreicher Finanzierung durch milliardenschwere Investoren wie Bill Gates und Jeff Bezos sowie den Agrarrohstoffhändler Bunge brachte das Unternehmen Pivot Bio 2019 ein Produkt namens „Proven“ auf den Markt. Es handelt sich um Bakterien, die den in der Luft vorkommenden Stickstoff binden und für die so behandelte Maissaat verfügbar machen sollen. Normalerweise stellen diese stickstofffixierenden Bakterien ihre Aktivität ein, wenn im Boden ein hoher Stickstoffgehalt erreicht ist. Durch einen Eingriff in ihr Erbgut wurde dieser „Aus-Schalter“ deaktiviert. Die Bakterien werden so gezwungen, den Mais mit immer mehr Stickstoff zu versorgen. Auch dieses Mittel kam in den USA bereits auf mehr als einer Million Hektar zum Einsatz. Bayer ging 2019 eine „Forschungszusammenarbeit“ mit Pivot Bio ein und arbeitet seitdem unter anderem daran, weitere stickstofffixierende Bakterien zu vermarkten, zunächst für sein Sojasaatgut.

Während Hunderte Start-ups zusammen mit den großen Playern der Agrarindustrie unter Hochdruck ähnliche Produkte entwickeln, warnten Forschende aus der ganzen Welt schon 2019 im Fachblatt Science of The Total Environment vor möglichen Folgen: „Einige Mikroorganismen, die als Biodünger verwendet werden, verhalten sich wie Krankheitserreger und sind deshalb in die Biosicherheitsstufe 2 einzustufen. Sie stellen ein ernsthaftes Risiko für die Umwelt und die menschliche Gesundheit dar.“ Auf Anfrage des Greenpeace Magazins teilt Bayer mit: „Die Sicherheit für Mensch und Umwelt, ob bei der Anwendung von Pflanzenschutzmitteln oder auch in der Forschung, steht für uns immer an erster Stelle. Wir behandeln jede kommerzialisierte Mikrobe als eigenständige Einheit und führen dementsprechend eine umfassende Risikobewertung auf Stammebene durch.“ Dazu gehörten unter anderem „Pathogenitäts- und Toxizitätsbewertungen für Säugetiere und Nichtzielorganismen. Dieser umfassende Ansatz wird auf unser gesamtes Biologika-Portfolio angewendet, von ganzen Mikroben bis hin zu anderen Produkten biologischen Ursprungs.“

Bislang ist das Geschäft mit den Organismen, die als „landwirtschaftliche Biologika oder schlicht als biologics vermarktet werden, und den von ihnen produzierten Stoffen, die als sogenannte Biostimulanzien“ vertrieben werden, vergleichsweise klein. Im Jahr 2020 wurden mit Düngemitteln auf Basis von Mikroorganismen rund 1,5 Milliarden Dollar umgesetzt, mit Pestiziden dieser Art immerhin bereits vier Milliarden Dollar. Die Agrarberatung IHS Markit prognostiziert jedoch jährliche Zuwachsraten in Höhe von bis zu zwölf Prozent. Unter den vielen Millionen Bodenorganismen gibt es Tausende vielversprechende Kandidaten und ebenso viele denkbare Anwendungen in der Landwirtschaft. Seit wenigen Jahren kommen auch in Europa inzwischen Dutzende „Biologika“ und „Biostimulanzien“ verschiedener Hersteller auf den Äckern zum Einsatz. Lukrativ wird das Geschäft vor allem dann, wenn die Konzerne sich nicht nur die natürlich vorkommenden Eigenschaften zunutze machen, sondern durch gezielte Eingriffe in das Genom der Organismen neues „biologisches Material“ erzeugen, auf das sie Patente anmelden können.

Das Kerngeschäft der Branche aber bleiben zumindest vorerst die synthetischen Mittel. Der Absatz von konventionellen Pestiziden steigt weltweit sogar massiv an: In Afrika legte er zwischen 1999 und 2019 um 71 Prozent zu, in Lateinamerika um 143 Prozent. Und auch in Europas Ackerböden sind Pestizide omnipräsent.

Im Wasser, in der Luft,
im Hausstaub, im Darm

Mit dem Boden werden auch Pestizide vom Acker getragen. Ein internationales Team erfoscht, wohin die Ackergifte gelangen

Forschende der Universität Wageningen in den Niederlanden legten 2019 eine beunruhigende Bestandsaufnahme vor: 83 Prozent der Ackerböden, die sie quer durch Europa analysiert hatten, waren mit Pestiziden kontaminiert. Ihre Studie sorgte unter Bodenökologie-Fachleuten für Aufsehen. Denn sie widerlegte eine gängige Behauptung der Agrarindustrie: dass nämlich die meisten Pestizide im Boden rasch abgebaut und unschädlich gemacht würden. In der EU sind rund 500 Substanzen als Pestizide zugelassen. Die Hälfte dieser Wirkstoffe gilt als bioakkumulativ, sie sammeln sich also in der Natur an. Ein Viertel all dieser Stoffe überdauert im Boden.

Die Forschenden aus Wageningen wollten es genauer wissen: Was richtet dieser Pestizidcocktail im Boden an – und wie wirkt er sich auf die menschliche Gesundheit aus? Die EU finanzierte ein umfangreiches Forschungsprojekt in elf europäischen Ländern sowie in Argentinien, von wo ein großer Teil des Futtermittel-Sojas für Europas Fleischindustrie importiert wird. Erneut nahmen die Forschenden Hunderte Proben aus dem Boden, dem Wasser und der Luft sowie Hausstaub-, Stuhl- und Urinproben. 

 „Wir sind umgeben von einem Mantel von Gift.“

Violette Geissen, Leiterin des Forschungsprojekts SPRINT

Als Professorin für Bodendegradation und Landmanagement an der Universität Wageningen leitet Violette Geissen das Pestizidprojekt, das Europas Landwirtschaft auf dem Weg zu einem nachhaltigem Pflanzenschutz begleiten soll. Der Projektname SPRINT (Sustainable Plant Protection Transition) verspricht schnelle Schritte, tatsächlich aber verläuft die Agrarwende schleppend.

Umwelt- und Verbraucherschutzorganisationen fordern seit Langem eine Abkehr von den Pestiziden, die sie als Ackergifte kritisieren. Der Streit um Nutzen und Risiken von Glyphosat, dem meistgenutzten Herbizid der Welt, ist zum Stellvertreterkrieg in einer Grundsatzdebatte geworden. Während viele Bauern beteuern, Glyphosat sei ein unentbehrliches Hilfsmittel, argumentieren kritische Organisationen wie das Pesticide Action Network, dass eine „Landwirtschaft ohne Glyphosat“ nicht nur nötig, sondern auch möglich sei.

Die europäische Lebensmittelbehörde EFSA hat diesen Streit vorerst beendet: Sie entschied Ende November, den Einsatz von Glyphosat in Europas Landwirtschaft für zehn weitere Jahre zu genehmigen. Die Expertinnen und Experten hatten rund 2400 Studien gesichtet, die bis Mitte 2020 in der Fachliteratur erschienen waren. „Für alle von uns bewerteten repräsentativen Verwendungen von Glyphosat wurde ein geringes Risiko festgestellt“, teilte die EFSA auf Anfrage des Greenpeace Magazins mit. Auch die Risiken für Regenwürmer, Springschwänze und im Boden lebende Raubmilben habe man auf Grundlage der vorhandenen Daten als „gering“ eingeschätzt.

Violette Geissen hält die Entscheidung der EFSA für falsch. Im Rahmen des SPRINT-Projekts erarbeitet sie eine neue Methodik, die der Behörde in Zukunft eine bessere Entscheidungsgrundlage liefern soll. Schon allein die Versuchsanordnung zur Wirkung von Glyphosat auf Bodenorganismen, auf denen die Zulassung beruht, seien fragwürdig. „Die meisten Regenwurmarten lassen sich unter Laborbedingungen nur schwer züchten”, erklärt die 60-Jährige. Das gilt etwa für Lumbricus terrestris, den allseits bekannten Gemeinen Regenwurm oder Tauwurm, den Laien meinen, wenn sie von Regenwürmern sprechen. Die Agrarindustrie verwendet deshalb in ihren Experimenten bevorzugt Kompostwürmer. Sie lassen sich viel leichter reproduzieren, reagieren jedoch auch weniger sensibel auf die meisten Pestizide, sagt Geissen. Das sei ein grundlegender Fehler im Studiendesign. Die Tests, mit denen die Industrie die Harmlosigkeit von Pestiziden für das Bodenleben unter Beweis stellen will, hätten jedenfalls wenig Aussagekraft für die Realität im Ackerboden.

„Wir arbeiten mit repräsentativen Arten, die tatsächlich in den landwirtschaftlichen Flächen vorkommen“, sagt Geissen. Dafür entnahmen sie und ihre Kollegen erneut Dutzende Bodenproben in ganz Europa. Die Regenwürmer, die sie darin fanden, wurden aufwendig vermehrt. Nun leben die Würmer in Kisten und Gläsern, nummeriert und sortiert nach Fundort und Bodenart, aufbewahrt in einer dunklen Kammer in einem Nebentrakt. Nur geschulte Mitarbeitende, die den Schlüssel zum Giftschrank der Universität verwahren, dürfen die Behälter mit Pestiziden besprühen – in Abständen und Dosierungen, wie sie auch in der Landwirtschaft üblich sind.

Vom Winde verweht

Für eine andere Studie besuchten Violette Geissen und ihr Team Landwirte und entnahmen in deren Häusern Proben vom Hausstaub – wiederum mit Ergebnissen, von denen Geissen sagt: „Wir Wissenschaftler sind besorgt.“ In allen Häusern fanden sie Pestizidrückstände. Von den 198 gefundenen Wirkstoffen stuften sie 42 Prozent als besonders schädlich ein, fast ein Drittel der Rückstände war sogar auf Pestizide wie DDT zurückzuführen, die wegen ihrer akuten Gefahren für Menschen und Umwelt längst nicht mehr zugelassen sind. Am weitesten verbreitet aber waren Glyphosat und dessen Abbauprodukt AMPA, außerdem eine Reihe von Insektiziden. „Die Stoffe können natürlich mit der Kleidung, an Schuhen oder auf Lebensmitteln ins Haus kommen.“ Dennoch war Geissen von den Ergebnissen überrascht: „Die meisten Landwirte in Europa, deren Häuser wir für unsere Studie untersucht haben, tragen die vorgeschriebene Schutzkleidung. Die legen sie natürlich ab, bevor sie ins Haus gehen. Auch achten die meisten darauf, nicht an windigen Tagen zu sprühen, um ein Abdriften der Pestizide zu vermeiden.“ Dass sich trotzdem derart viele Pestizidrückstände im Hausstaub fanden, sei vermutlich das Ergebnis von Winderosion, erklärt Geissen. „Mit dem Wind werden Bodenpartikel und mit ihnen die anhaftenden Pestizide kilometerweit verteilt und gelangen so schließlich auch ins Haus.“ Deshalb fanden die Forschenden Rückstände nicht nur in den Häusern konventioneller Landwirte, sondern in geringeren Mengen auch bei Biobauern und in den Haushalten von Menschen, die lediglich in der Nähe von Feldern wohnen.

Insbesondere die Glyphosatrückstände im Hausstaub beschäftigen die Forschenden des SPRINT-Projekts. In einer ersten Abschätzung kommen sie zu dem Ergebnis, dass Menschen deutlich mehr Glyphosat aufnehmen als die Wissenschaft bisher annahm. Die Studienergebnisse sollen im Frühjahr veröffentlicht werden. Projektleiterin Geissen sagt aber schon jetzt: „Es besteht das Risiko, dass wir täglich doppelt so viel Glyphosat aufnehmen wie bisher angenommen.“ Die Glyphosatrückstände im Hausstaub, die wir womöglich täglich einatmen oder über die Haut aufnehmen, seien in den Risikobewertungen bisher nicht ausreichend berücksichtigt worden, so Geissen. „Das bedeutet, dass die bisher geltenden Grenzwerte und die Tageshöchstdosis völlig neu bewertet werden müssen.“

„Kollateralschäden im Boden“

Besonders gut bindet Glyphosat an Bodenpartikel. Deshalb ging man lange davon aus, dass das Herbizid kaum über den Ackerrand hinaus verbreitet werde. Doch durch Phosphatdüngung kann diese Bindung rückgängig gemacht werden. Dann kann Glyphosat auch in tiefere Bodenschichten verlagert werden und in direkten Kontakt mit Bodenorganismen kommen. Mit Glyphosat verbundene Bodenpartikel werden außerdem durch die Luft verbreitet. Das hatte bereits eine Studie im Auftrag des Umweltinstituts München und des Bündnis für enkeltaugliche Landwirtschaft nachgewiesen. An 163 Standorten in ganz Deutschland – unter anderem in Städten, Naturschutzgebieten und auf Äckern von Biohöfen – wurden über mehrere Jahre mit Filtern Partikelproben aus der Luft genommen. Darin fanden die Forschenden Spuren von insgesamt 138 Pestiziden.

Dass Pestizide viele Bodenorganismen schädigen, haben etliche Studien erwiesen. Glyphosat und dessen Abbauprodukt Aminomethylphosphonsäure (AMPA) etwa hemmen die Aktivität und die Vermehrung von Regenwürmern. Andere Studien wiesen negative Auswirkungen verschiedener Pestizide auf Springschwänze und Asseln nach.

Regenwürmer

In seinem letzten Werk, das ein Jahr vor seinem Tod erschien, nannte Charles Darwin den Regenwurm „den wichtigsten Helfer der Bauern“. Weltweit gibt es mehr als 3000 Arten, allein in Deutschland kommen mehr als vierzig verschiedene Spezies vor. 

Die sogenannten endogäischen Regenwürmer graben waagerechte Gänge in der obersten Bodenschicht und durchmischen diesen langsam und beständig. Sie sind blass gefärbt, da sie nur selten an die Erdoberfläche kommen. 

Anektische Regenwürmer wiederum graben senkrechte Gänge bis in mehrere Meter Tiefe. Sie kommen meist nachts, wenn es feucht ist, zur Paarung und zur Nahrungssuche an die Oberfläche. Mit ihrem Kopflappen greifen sie tote pflanzliche aber auch tierische Reste und ziehen das Material in ihre Gänge, um es dort zu verspeisen. Dabei verdauen sie auch die Bakterien und Pilze, die sich bereits auf dem verrottenden Material angesiedelt haben. 

Regenwürmer verschlingen pro Tag bis zu einem Drittel ihres Körpergewichts. In ihrem Darm vermengen sich organisches Material und mineralische Bestandteile wie Sand, Schluff und Ton. Ihre Verdauung produziert so besonders gute, mit Nährstoffen angereicherte Erde, sogenannte Ton-Humus-Komplexe. Die auf einem Hektar lebenden Regenwürmer, die zusammen ein Gewicht von bis zu drei Tonnen erreichen können, scheiden jedes Jahr rund 600 Tonnen dieses nahrhaften Kots aus. Durch ihr unermüdliches Graben und Fressen bringen sie die organische Substanz direkt in den Boden hinein. Diese neue Erde ist ideal für das Wachstum von Pflanzen. Auch ihre Röhren kleistern die Würmer mit ihrem Kot aus. Pflanzenwurzeln können direkt in die Gänge hineinwachsen und finden darin eine ideale Düngung vor. Außerdem bilden ihre Gänge eine Art Kanalisation, durch die Regenwasser schnell einsickern kann, statt an der Oberfläche abzulaufen. 

Wegen ihrer vielfältigen Funktionen gelten Regenwürmer als Architekten des Ökosystems Boden. Sie dienen als Zeigerart, ihr Zustand ist ein Indikator für die Gesundheit des gesamten Ökosystems unter der Erde.

Asseln

Für ihre Kiemenatmung benötigen Asseln ein feuchtes Milieu, die Krebstiere kommen ursprünglich aus dem Wasser. Sie zählen zu den Destruenten, den Entsorgern im Bodenleben. Asseln ernähren sich vom Detritus, abgestorbenem organischen Material, das in ihrem Verdauungstrakt mit Mikroorganismen vermischt wird, was die Umwandlung in Humus beschleunigt. Ihre Ausscheidungen sorgen für eine Verteilung der Nährstoffe im Boden. Auf ihrem Panzer und in ihrem Darm transportieren sie außerdem Mikroorganismen wie Bakterien und Pilze zu neuen Nahrungsquellen.

Milben

Bei den zahlreichen Milbenarten wird grob zwischen Horn- und Raubmilben unterschieden. Hornmilben ernähren sich vor allem von Laub, Algen und Pilzen, doch auch Aas verschmähen sie nicht. Sie sind Teil der Gesundheitspolizei im Boden. Raubmilben hingegen machen Jagd auf Nematoden und andere Kleinstlebewesen. Da sie sich von allerlei Tieren ernähren, die Pflanzen schädigen können, werden Raubmilben zu den Nützlingen im Pflanzenbau gezählt.

Springschwänze

In einem Quadratmeter gesundem Boden können mehr als 100.000 Individuen von bis zu hundert Springschwanzarten vorkommen – winzige, flügellose Verwandte der Insekten. Springschwänze sind wichtige Zersetzer im und auf dem Boden. Sie zernagen organisches Material und vergrößern dadurch die Oberfläche, die von den Mikroorganismen besiedelt werden kann. So spielen sie für die Umwandlung der organischen Substanz in fruchtbaren Humus eine wichtige Rolle. Neben „Allesfressern“ gibt es unter den Springschwänzen auch Spezialisten, die vorrangig Algen, Pilze, Aas, Exkremente, Pollen oder Mikroorganismen fressen. Ihren Namen verdanken sie der Sprunggabel an ihrem Hinterteil, mit der manche Arten über dreißig Zentimeter hoch und weit springen.

Dass Glyphosat nicht nur Pflanzen tötet, ist seit Längerem bekannt. Der Wirkstoff blockiert den Shikimatweg, den Pflanzen für ihren Stoffwechsel benötigen, erklärt Violette Geissen die Wirkungsweise des Herbizids. Doch auch viele Mikroorganismen wie Bakterien und Pilze nutzen diesen Stoffwechselweg.

Deshalb hat Glyphosat, anders als von den Herstellern oft behauptet, sogar Auswirkungen auf Insekten wie Bienen, deren Immunsystem zentral von einer funktionierenden mikrobiellen Gemeinschaft abhängt. Denn viele Insekten leben in Symbiose mit bestimmten Bakterien, die ihren Körper besiedeln. Wird der Shikimatweg dieser Bakterien durch Glyphosat geschädigt, kann das bei den Insekten zu Entwicklungsstörungen führen.

Die Hersteller wissen seit Langem, dass Glyphosat antibiotisch wirkt. Monsanto ließ das Mittel sogar als Antibiotikum patentieren. Die meisten anderen Herbizide wirken ebenfalls antibiotisch. Das verändert offenbar nicht nur die Zusammensetzung des Mikrobioms im Boden, da manche Organismen geschädigt werden, während andere mit dem Herbizideinsatz besser zurecht kommen. Forschende aus Großbritannien und China kamen darüber hinaus zu der Schlussfolgerung, der antibiotische Effekt der Herbizide könne potenziell zum weltweiten Problem der Antibiotikaresistenz in der Landwirtschaft beitragen. Bedenkt man zudem die enormen Mengen an Gülle, die mit Antibiotika aus der Massentierhaltung belastet sind, droht die bakterielle Vielfalt unter der Erde womöglich schneller aus dem Gleichgewicht zu geraten, als die Wissenschaft die Geheimnisse des Bodenlebens entschlüsseln kann.

Außerdem kann Glyphosat nützliche Pilze schädigen, etwa jene Mykorrhiza-Arten, die in enger Symbiose den meisten Pflanzen bei der Nährstoffversorgung helfen. Auch andere Pilzarten, die im Boden helfen, schädliche Insekten zu regulieren, wurden in Versuchen mit Glyphosat negativ beeinflusst. Interessanterweise schädigte der Wirkstoff allein die Pilze nicht. Der Effekt trat erst ein, als die Forschenden Glyphosat in Kombination mit anderen Wirkstoffen ausbrachten – also genau so, wie das Mittel in der Landwirtschaft tatsächlich zum Einsatz kommt, etwa als Herbizid unter dem Markennamen Roundup. Es ist ein Anzeichen dafür, dass Roundup toxischer sein könnte als der Wirkstoff Glyphosat allein. Das würde bedeuten, dass „Tests, die nur mit Glyphosat durchgeführt werden, der Realität nicht gerecht werden und unter Umständen geschönte Toxizitätsdaten erbringen“, heißt es in einem Beitrag im Kritischen Agrarbericht, der bereits 2010 unter dem Titel „Kollateralschäden im Boden“ zahlreiche Studien zu den Auswirkungen von Glyphosat auf das Bodenleben zusammenfasste.

„Über die langfristigen Auswirkungen von Glyphosat wurde zu wenig berichtet.“ Zu diesem Ergebnis kommt eine Studie von 2021, in der Violette Geissen und weitere Forschende die Effekte des Herbizids auf mikrobielle Gemeinschaften beschreiben. Ihre Forderung ist eindeutig: „Es bedarf neuer Normen für Rückstände in pflanzlichen und tierischen Produkten und in der Umwelt.“

Doch trotz aller Bedenken blieb die EFSA bei ihrer Entscheidung, die Glyphosatzulassung um zehn Jahre zu verlängern. Und nur eine Woche nach der umstrittenen Entscheidung kippte das Europaparlament Ende November den Vorschlag der Kommission, den Einsatz von Pestiziden drastisch zu reduzieren.

Während beide Entscheidungen für Schlagzeilen sorgten, wird in Brüssel weitgehend abseits der öffentlichen Wahrnehmung ein Vorhaben verhandelt, das weltweit einmalig wäre: Ein neues Abkommen soll die Böden endlich besser schützen.

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Wiederbelebt

Die Industrie bremst, die Politik vertagt den Schutz der Böden. Doch längst zeigt sich auf immer mehr Feldern, wie sie aussehen kann: die bodenaufbauende Landwirtschaft der Zukunft.

Kapitelübersicht

Kapitel I

Bodenlos

Die Böden zu bewahren ist nicht nur der Schlüssel im Kampf gegen den Hunger. Gesunde Böden wappnen uns auch gegen Klimakrise, Wassernot und Artensterben.

Kapitel II

Ausgelaugt

Der Pflug und die Kunstdünger steigerten die Erträge drastisch, doch längst verwüsten sie die Erde. Im Zeitalter der Bodenkrise müssen wir den Ackerbau von Grund auf neu denken.

Kapitel III

Grüne Revolution 2.0

Genveränderte Bodenmikroben, das „intelligente Feld“ und
fragwürdige CO2-Zertifikate:
Die Agrarindustrie entdeckt den Boden als Produkt.

Kapitel IV

Wiederbelebt

Die Industrie bremst, die Politik vertagt den Schutz der Böden. Doch längst zeigt sich auf immer mehr Feldern, wie sie aussehen kann: die bodenaufbauende Landwirtschaft der Zukunft.

von Marius Münstermann
Videos & Fotos Christian Werner
Illustrationen Erik Tuckow
Redaktion Wolfgang Hassenstein

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Florian Schwinn - Rettet den Boden! Warum wir um das Leben unter unseren Füßen kämpfen müssen

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Soilify - "Die Plattform zur Förderung der regenerativen Landwirtschaft in Deutschland, Österreich und Schweiz"

Joshua Tickell, Rebecca Harrell - Kiss the Ground (Dokumentarfilm)

Umweltbundesamt - Kommission Bodenschutz